Mit Mitte 40 habe ich meiner Karriere eine völlig neue Richtung gegeben. Vor 7 Jahren habe ich meinen ersten Improvisationstheaterworkshop besucht. Seitdem spiele ich Improvisationstheater, arbeite als Karrierecoach und mittlerweile auch als Trainer für angewandte Improvisation. Ich arbeite mit Teams und vermittle auf spielerische Weise, wie die Prinzipien des Improvisationstheaters dazu beitragen, im Berufsleben positiver, wertschätzender, klarer und fehlerfreundlicher zu kommunizieren. Als ich vor 25 Jahren mein Studium der Volkswirtschaftslehre abgeschlossen und meinen ersten Job in der Politikberatung angetreten habe, hätte ich mir diesen Weg nie träumen lassen.
Späte Karrieren sind normal
Ich bin ein „Spätblüher“ (Late Bloomer). Mit 40 im Job nochmal ganz von vorn anfangen; mit 50 ein Unternehmen gründen oder mit 60 ein Studium beginnen. Laut einem Beitrag in der „Psychologie heute“ https://www.psychologie-heute.de/leben/40692-meine-zeit-kommt-jetzt.html vom September 2020 sind Spätblüher*innen gar nicht mal so selten: 10% der Firmengründer*innen sind älter als 55, weitere 20% zwischen 45 bis 55. Spätblüher*innen sind Menschen, die typisierte Vorstellungen von Entwicklungs- und Karrierewegen auf den Kopf stellen. Das fängt schon bei Kindern an: obwohl erwiesen ist, dass bei Grundschüler*innen Reifeunterschiede von bis zu 2 Jahren vorkommen, gibt es für diese Unterschiede wenig Toleranz. Einschränkende Vorstellungen durchziehen dann die Bewertungen von Entwicklungsverläufen bis ins hohe Alter.
Und dennoch: späte Karrieren sind normal und natürlich. Menschen haben vielfältige Interessen und Talente. Oft schlagen wir – unter dem Einfluss des elterlichen Rats oder mit Blick auf materielle Zwänge und Aussichten – einen Berufsweg ein, der unseren Talenten nicht entspricht. Oder aber Ziele, die im frühen Erwachsenenalter wichtig waren, verlieren ihre Bedeutung, wenn sie erreicht wurden. Einer meiner Klienten sagte mir: „Ich wollte im Marketing in der obersten Liga mitspielen. Das hatte ich mit 40 erreicht.“ Es kann lange dauern, bis wir uns unserer Talente bewusstwerden, bis wir motiviert sind, unsere Talente konsequent zu verfolgen oder bis eine Veränderung uns zu Entscheidungen zwingt.
Was späte Karrieren scheinbar erschwert – Lernen braucht Zeit
Späte Karrieren scheinen auf den ersten Blick schwierig zu sein. Nach einer Faustregel braucht es 10.000 Stunden, bis wir auf einem Gebiet Meisterschaft erreichen. 10 Jahre Praxis und Lernen sollten wir schon ansetzen, wenn wir etwas wirklich gut beherrschen wollen. Hinzu kommt: nach anfänglicher Euphorie und schnellen Erfolgen erreicht jeder Lernprozess ein Plateau, in dem sich scheinbar keine weiteren Fortschritte einstellen. Auch meine Erfahrungen mit dem Improvisationstheater bilden da keine Ausnahme: Auch ich habe mich irgendwann gefragt, ob sich der Aufwand wirklich lohnt oder ob ich nicht lieber „altersgemäß“ leben sollte. Heute bin ich dankbar, dass ich drangeblieben bin, auch ein wenig nach dem Motto „Augen zu und durch“. Ich habe dabei viel über mich, über das Lernen und darüber gelernt, warum späte Karrieren gelingen können.
Erfolgsfaktoren für späte Karrieren
Wir Spätblüher*innen starten nicht bei Null. Im Gegenteil: 20, 30 Jahre Lernen, Erfahrung und Selbsterkenntnis liegen hinter uns. Das wirkt sich vor allem positiv auf den Lernstil aus. Wir lernen gezielter und effektiver. Wir können an vorhandenes Wissen andocken. In meinem Fall als Improvisationstheaterspieler und Trainer für angewandte Improvisation kommen mir die vielen sozialen Rollen zugute, die ich in meinem Leben schon innehatte: ich war Leistungssportler, Soldat, Arbeiter, Mitglied einer politischen Partei, Arbeiter, Hausbauer, bin immer noch Ehemann und Vater. Dabei habe ich unzählige Menschen kennengelernt. Die Summe dieser Erfahrungen resultiert in einem intuitiven Verständnis von Situationen und Menschen. Sie nehme ich auf die Bühne oder in meine Workshops mit.
Bei uns Spätblüher*innen gehen Lernkompetenz und Zeitknappheit eine optimale Verbindung ein. Wir haben keine Zeit zu verlieren; also sind wir hochmotiviert. Wir entscheiden bewusst, was wir lernen wollen und worauf wir verzichten. Wir sind dadurch in der Lage, schneller zu lernen. Gleichzeitig können wir geduldiger mit uns sein; denn wir wissen, dass Lernen nicht linear und stetig erfolgt. Wir wissen, dass es Phasen scheinbaren Stillstands gibt; in den sich unter der sichtbaren Oberfläche Erfahrung und Übung zu neuer Qualität akkumulieren. Wir haben uns entschieden; also bleiben wir dran.
Zugute kommt uns Spätblüher*innen auch, dass im Verlauf des Lebens immer wieder neue intellektuelle Gipfel erreicht werden. Zwischen 45 und 55 Jahren erreicht das soziale Verständnis einen Höhepunkt, bis 65 und darüber hinaus das verbale Wissen.
(Lern)Erfahrung trifft Motivation trifft Kompetenz! Das sind die drei Erfolgsfaktoren, die jeder und jedem zur Verfügung stehen, die/der sich für eine späte Karriere entscheidet.
Wie starte ich eine späte Karriere – Tipps (nicht nur) für das Karrierecoaching
- Bleibe realistisch – statt überkritisch!
Menschen sehen zuerst Risiken, dann erst Chancen. Das ist unsere genetische Grundausstattung, die uns Hunderttausende von Jahren das Überleben gesichert hat. In meiner Praxis als Karrierecoach treffe ich immer wieder Menschen, die zwar wollen, sich aber nicht trauen. Sie fokussieren sich stark auf die Risiken des neuen Weges und auf die einschränkenden Vorstellungen von einer „normalen“ Persönlichkeits- und Karriereentwicklung.
Risiken solltest du einkalkulieren; aber in einer konstruktiven Weise. Um vorbereitet zu sein, um sie managen zu können, um Fehler zu vermeiden. Akzeptiere einschränkende Glaubenssätze nicht. Erlaube dir stattdessen einen Blick auf die Fakten. Ein realistischer Blick erfordert, auch die (oben angesprochenen) Möglichkeiten zu sehen und sie ganz nüchtern gegen die Risiken abzuwägen. Ein wenig strategische Planung – z.B. mit Hilfe einer SWOT-Analyse – kann da hilfreich sein.
- Schaffe Gelegenheiten für Motivation, Erkenntnis und klare Entscheidungen!
Um den Schritt in eine neue Karriere zu beginnen, bedarf es einer intensiven Klärung – von Bedürfnissen, Werten, Zielen und Visionen. Und es bedarf einer definitiven Entscheidung! Die Psychologin Maja Storch www.majastorch.de spricht in diesem Zusammenhang von einem „Schritt über den Rubikon“, der nur mit einer starken positiven Emotion gelingt.
Meinen kristallisierenden Moment hatte ich nach den ersten 20 Minuten des ersten Improvisationstheaterworkshops, den ich besuchte. Vom vielen Lachen tat mir der Kiefer weh und ich war ich so in Schweiß gebadet, dass ich bedauerte, kein T-Shirt zum Wechseln mitgebracht zu haben. Ich erkannte intuitiv, dass das Improvisationstheater mir die Möglichkeit bot, eine seit Jahren schwelende Unzufriedenheit anzugehen. Ich war unzufrieden damit, wie ernst, abstrakt und verkopft ich meine Projekte anging. Ich suchte nach einer Möglichkeit, Leichtigkeit und Spiel in mein Leben zurückzuholen. So wie ich das bei meinen Kindern beobachteten konnte. Improvisationstheater bot mir genau das: Spaß haben, Lernen und dabei auch noch Geld verdienen!
Entscheidend für meine „späte Karriere“ war, dass ich diese Gelegenheit selbst herbeigeführt habe. Ich habe das Potential des Improvisationstheaters intuitiv erfasst, den Workshop spontan gebucht und mich mit Neugier und Offenheit auf die neue Erfahrung eingelassen.
- Gestalte ein förderliches Umfeld!
Gewohnheiten haben ein großes Beharrungsvermögen. Also kommt es darauf an, jene Einflüsse zu stärken, die die Entscheidung für eine späte Karriere unterstützen. In meinem Fall war das die Möglichkeit, meinen Vollzeitjob in eine Teilzeitstelle umzuwandeln. Dadurch konnte ich die (materielle) Sicherheit behalten und mir gleichzeitig Freiräume für Neues eröffnen. Wenn wir uns auf den Weg gemacht haben, ist es außerdem wichtig, Menschen zu finden, die uns unterstützen. Das können wir Networking nennen oder im Stil einer Heldenreise auch Gefährten. Entscheidend ist, dass wir tun, was Maja Storch „goal shielding“ nennt: wir schützen und stärken unser Ziel.
Hilfreich ist auch die richtige Taktik auf dem Weg. Die kann je nach Persönlichkeit sehr unterschiedlich sein. Erfolgversprechend ist aber insbesondere, kleine Schritte zu gehen, sich Teilziele zu stecken und für schnelle Erfolge zu sorgen, die Zuversicht und Selbstvertrauen stärken. So haben wir die Chance, sich selbst verstärkende „Engelskreise“ zu kreieren, bei denen jeder Schritt den nächsten vorbereitet und wahrscheinlicher macht.
- Bringe deine Kompetenzen in kreative Verbindung mit deinen Träumen!
Der klassische Ausstieg (die sprichwörtliche Schafzucht auf Neuseeland) ist nicht ausgeschlossen, wird aber nur für sehr wenige Menschen den Weg in eine späte Karriere eröffnen. Erfolgversprechender ist es, die eigenen Kompetenzen genau kennenzulernen und sie in den Dienst der eigenen Vision zu nehmen. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Das INQUA-Institut www.inqua-institut.de, für das ich als Karrierecoach tätig bin, bietet beispielsweise das Kompetenzprofil High Profiling® auf der Grundlage eines biografischen Interviews an. Es gibt außerdem zahlreiche Ratgeber mit hilfreichen Selbsttests.
Ich erfasse gemeinsam mit meinen Klient*innen gern ihre Kernkompetenzen. Für mich ist Kernkompetenz die Kombination von fachlichen, sozialen und persönlichen Kompetenzen, die jeden Menschen einzigartig macht. Für jede Kernkompetenz gibt es eine Karriereoption mit einer hohen Passung. Sie zu suchen, ist eine spannender Erfahrung, insbesondere dann, wenn wir sie als kreativen Prozess verstehen. Es ist erlaubt, ja sogar notwendig, zu träumen, Visionen und große Ziele zu formulieren, ungewöhnliche Fragen zu stellen,….
In meiner Praxis als Karrierecoach finden meine Klienten regelmäßig neue Optionen, die ideal zu ihren Kernkompetenzen passen. Ich selbst haben die für mich passende Kombination aus Kompetenz und Motivation gefunden. Du schaffst das auch. Fange an! Jetzt!