Unternehmen, die neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen, möchten in der Regel hoch hinaus. Einer meiner Klienten im Karrierecoaching interessierte sich für die Stellenausschreibung eines jungen Start-up. Die Liste der geforderten und gewünschten Kompetenzen war lang. Neben den selbstverständlichen Fachkenntnissen waren da unter anderem gefragt und gesucht: strategische Stärke, analytisches Denken, Problemlöser, flexibler Teamplayer, Kommunikationsstärke, Hands-on Mentalität, gesunder Pragmatismus und Weitsicht – und und und …. Und eben auch KOMMUNIKATIONSTALENT.
Kommunikationsstärke auf den ersten Blick: solides Handwerk oder Gabe?
Mein Klient ist ausgebildeter Koch und daher in einem sehr klaren direkten und zielorientierten Kommunikationsstil geschult. Nach einer Umschulung war er dann viele Jahre in der Lebensmittelindustrie tätig und im Rahmen von Entwicklungsprojekten auch mit stärker dialog-orientierter Kommunikation vertraut. Aber Talent? Dieser Gedanke lag ihm fern. Eher dachte er an berühmte Stand-up Komiker*innen, die Kongresshallen voll mit Menschen zum Lachen bringen oder an einfühlsame Therapeut*innen, die das Einmaleins der zwischenmenschlichen Kommunikation mühelos beherrschen und einen direkten Draht zu den Herzen ihrer Gesprächspartner*innen aufbauen. Das Wort Talent vermittelte ihm den Eindruck, Kommunikationsstärke sei eine Gabe, die nur ganz Wenigen von Geburt an mitgegeben wird. Was zählen da schon einige Jahre Kommunikationserfahrung im Beruf und jahrzehntelange Kommunikationspraxis als Mensch in unterschiedlichen sozialen Rollen! Na, vielleicht eher doch nicht bewerben…..
Re-Framing im Karrierecoaching
Als Karrieecoach bin ich gewohnt, Kompetenzen auch dann zu hören, wenn meine Klient*innen ein Defizit sehen. Ich bin ein gnadenloser Umdeuter (Re-Framer). Und das mit gutem Recht: jede Eigenschaft, die Menschen an sich abwerten, hat auch ihre guten Seiten, die in bestimmten Situationen durchaus zum Tragen kommen kann. Jemand, der sich beispielsweise Entscheidungsschwäche attestiert, könnte ebenso an sich das sorgsame Abwägen von Entscheidungsalternativen und die dadurch mögliche gut begründete Entscheidung schätzen. Mein Job als Coach, besteht oft darin, meine Klient*innen genau diese kleine und wichtige Bedeutungsveränderung anzubieten.
Manchmal reicht es jedoch nicht aus, eine neue Bedeutung nur zu benennen. Die Erkenntnis „Das kann ich tatsächlich ganz gut!“ entsteht mitunter erst dann, wenn wir gemeinsam im Coaching herausgearbeitet haben, was gemeint ist bzw. gemeint sein kann, wenn eine Kompetenz benannt wird. Manche Kompetenzen sind in dieser Hinsicht klar (bspw. Zielorientierung), andere sind jedoch so unbestimmt, dass jede und jeder darunter verstehen kann, was sie bzw. er will. Dazu zähle ich Begriff wie Kommunikationsstärke, Teamplayer oder eben auch Kommunikationstalent. Nur ganz nebenbei: HR-Verantwortliche sollten auch daran denken, dass bestimmte Kompetenzbegriffe im Recruiting nur einen sehr geringen Erkenntniswert besitzen.
Kompetenzen analysieren und verstehen: Was ist ein Kommunikationstalent?
Ich war davon überzeugt, dass mein Klient kommunikationsstark ist. Nur brauchte ich noch eine Methode, um auch ihn davon zu überzeugen. Meine Idee war, zuerst mir und dann ihm die Frage zu stellen: Was ist ein Kommunikationstalent?
Gemeinsam fanden wir am Flipchart neun Antworten auf diese Frage.
Als ein Kommunikationstalent ….
- stelle ich sicher, dass meine Botschaften auch ankommen,
- ermögliche ich, dass alle die für sie relevanten Informationen bekommen,
- praktiziere ich eine (diplomatische) Sprache, die die Beziehung stärkt,
- nehme ich Konflikte wahr und spreche sie auch an,
- löse ich Konflikte konstruktiv und gesichtswahrend,
- äußere ich meine Bedürfnisse klar,
- berücksichtige ich, dass Menschen kulturell und persönlich unterschiedlich sind,
- berücksichtige ich Fachsprache und kann daher verstehen und mich verständlich machen,
- kann ich mein Kommunikationsverhalten situationsgerecht / agil anpassen.
Innerhalb von 20 Minuten entstand auf diese Weise ein sehr klares Bild von den unterschiedlichen Facetten starker Kommunikation. Im nächsten Schritt bat ich meinen Klienten, sich selbst auf einer Skala von 1 bis 10 im Hinblick auf jeden der beschriebenen Aspekte zu bewerten. Es zeigt sich, dass er sich bis auf zwei Aspekte zwischen 6 und 10 benotete; sogar eine 10 war dabei. Im Durchschnitt bewertete er sich mit 6,8 von 10 möglichen Punkten.
Dadurch, dass wir gemeinsam einen Blick hinter die Kulissen geworfen und einen schillernden Kompetenzbegriff gemeinsam analysiert haben, konnten wir spezifische Stärken klar herausarbeiten. Darüber hinaus entmystifizierten wir das Ausgangsbild: Auch ein Kommunikationstalent ist auf ganz konkrete Weise kompetent. Wir können verstehen, wie das geschieht. Wir können eigene Stärken und eigene Lernfelder erkennen. Und wir können – für uns und für andere – gute Argumente finden, warum wir kommunikationsstark sind – für bestimmte Aufgaben und in bestimmten Situationen.
Mein Klient weiß nun, dass er die geforderte Kompetenz „Kommunikationstalent“ nicht fürchten oder scheuen muss. Er hat nun gute Argumente, um seine eigene Kommunikationsstärke zu begründen und damit im Bewerbungsprozess noch überzeugender aufzutreten. Darüber hinaus hat der detaillierte Blick auf seine Kommunikationskompetenz ganz konkrete Lernfelder offengelegt. Wir werden uns im Coaching nun auch darauf konzentrieren, die empathische Kommunikation und Konfliktkompetenz zu verbessern.