Ein Thema endlich zur Chefsache machen! Diese Forderung wird vorzugsweise an politische Verant-wortungsträger gerichtet. Manche der so Angesprochenen lassen sich nicht lange bitten und erklären ein Thema gleich proaktiv zur Chefsache.
Hier eine Auswahl aktueller Artikelüberschriften:
„Innenminister … hat das Thema zur Chefsache erklärt.“
„… will Wirtschaft zur Chefsache machen.“
„Herr…, erklären Sie die Flüchtlingspolitik endlich zur Chefsache!“
„Neue Stabsstelle: Integration wird Chefsache.“
Nicht nur die großen Themen wie Flüchtlinge, Integration und Wirtschaft können Chefsache werden, sondern auch Baulandzuweisung, Flutpolder, Mitarbeiter, Bebauungspläne, Produktkostenmanagement, Gesundheitsmanagement,…
Scheinbar kein Thema ist vor dieser Forderung sicher. Gern wird sie flankiert von dem Vorwurf fehlender Führung, von der Forderung, endlich mal auf den Tisch zu hauen. Und die aktiven zur-Chefsache-Erklärer holen gern alle Beteiligten an einen Tisch oder richten Stabsstellen und Arbeitskreise ein.
Ich hege ein tiefes Misstrauen – sowohl gegen die Forderung als auch gegenüber der Erklärung. Immer suggeriert „endlich Chefsache“ einen Schritt nach vorn, hin zu einer Lösung. Und bemäntelt dabei, was sie im Kern oft ist: die Delegation von Verantwortung für das Funktionierendes des Ganzen an Einzelpersonen.
Warum ist „endlich Chefsache“ so gefährlich?
Die Bündelung von Verantwortung an einer Stelle ist der Logik komplexer Systeme nicht angemessen. Komplexität zeichnet sich dadurch aus, dass viele Variablen in Wechselwirkungen miteinander verbunden sind – nicht wie die Schräubchen und Zahnräder einer Maschine, sondern wie ein Organismus, der aus sich selbst heraus spontane Anpassungsreaktionen zeigt, die sich einer Beschreibung mittels mathematischer Logik entziehen. Führung in komplexen Systemen funktioniert demnach nicht wie das Reparieren einer Maschine durch einen Mechaniker, sondern eher wie das Pflegen eines Gartens durch einen Gärtner. Komplexe Systeme lassen sich langfristig besser steuern, je höher die Komplexität der Steuerung ist. Zentralisierung von Steuerung ist allenfalls vorübergehend sinnvoll, wenn es in einer Phase der Orientierungslosigkeit einen ersten neuen Bewegungsimpuls braucht.
Einzelpersonen können komplexe Systeme nicht kontrollieren, auch wenn sie noch so oft auf den Tisch hauen. Sie sind selbst Teil des Systems. Das zeigt sich beispielhaft am Thema Flüchtlinge. Eine chaotische Orientierungslosigkeit kann ich hier nicht erkennen. Der Informationsstand ist relativ gut. Die möglichen Ziele von „Wir schaffen das.“ bis hin zu „Das Boot ist voll.“ sind klar benannt. Eine ganze Reihe von Maßnahmen liegt auf dem Tisch. Neue Maßnahmen werden diskutiert. Die Zahl der beteiligten und engagierten Akteure ist riesengroß. Die Forderung nach zentraler politischer Steuerung hat hier vor allem politische Gründe…
Die Delegation von Verantwortung an Einzelpersonen im Sinne von „endlich Chefsache“ entspricht nicht den Normen unseres demokratischen Systems. Die Bundeskanzlerin und die MinisterpräsidentInnen haben die Richtlinienkompetenz in ihren jeweiligen Regierungen. Sie sind aber keine Könige, die einen beliebig großen Einflussbereich beliebig steuern können. Unser Land ist auf demokratische Meinungsbildung und Mitwirkung ausgerichtet. Das gilt umso mehr für Themen, die sich nicht auf Verwaltungshandeln reduzieren lassen, sondern wie beim Umgang mit Flüchtlingen auch moralische Werte auf den Prüfstand stellen. Wer in dieser Situation Verantwortung delegiert, tut das letztlich auch im Hinblick auf die Formulierung des Ziels und im Hinblick auf die moralische Bewertung. Denn was nicht geht: Chefsache einfordern und mitwirken bzw. mitreden wollen, als habe sich nichts verändert…
„Endlich Chefsache“ ist ein leichter Ausweg, weil wir es entweder nicht wollen oder können, gemeinsam ein Ziel zu formulieren, das eigene Handeln auf dieses gemeinsame Ziel auszurichten und dabei eigene Interessen zurückzustellen. Natürlich wäre es schön, wenn ein Staatsoberhaupt mit einer „We will put a man on the moon by the end of the decade“-Rede wie John F. Kennedy 1962 den entscheidenden Anstoß für die Lösung eines großen Problems geben könnte. Die damals initiierte Mondlandung stellt sich jedoch vergleichsweise simpel dar verglichen mit manch anderen Problemen, die durch „endlich Chefsache“ gelöst werden sollen. Auch Flutpolder oder Bebauungspläne lassen sich auf diese Weise sicher gut managen. Beim Thema Flüchtlinge müssen wir jedoch den schweren Weg gehen: ein gemeinsames Ziel formulieren, konsequent handeln und dabei eigene Interessen zurückstellen. Wir müssen auf gesellschaftlicher Ebene das tun, was viele ehrenamtliche Helfer spontan für sich entschieden haben: ich will anderen Menschen helfen, ich packe mit an, ich bin bereit, dafür einen Preis zu zahlen.
„Endlich Chefsache“ ist mindestens ebenso der Unwille, sich selbst zu bewegen, wie die Unfähigkeit zu starker Führung. Wenn eine Aufgabe Chefsache ist, dann ist es nicht mehr notwendig, offen darüber zu sprechen, welche Zugeständnisse und Kompromisse ich einzugehen bereit bin. Deshalb wird so oft über neue Forderungen und rote Linien gesprochen und viel seltener in der Sprache des Kompromisses. Ich muss mich nicht bewegen und warte mal ab, was passiert, um das dann bewerten und kommentieren zu können. Vielleicht steht dahinter auch der heimliche Wunsch, der Chef möge versagen. Daraus würde sich zwangsläufig ein Vorteil ergeben, weil die Verantwortung klar zugeordnet werden kann.
Wie lautet die Alternative zu „endlich Chefsache“?
Die Alternative zu „endlich Chefsache“ ist Führung. Logisch, dass auch Chefs führen müssen, gerade wenn sie zuvor das Risiko klarer Entscheidungen vermieden haben. Aber Führung, das ist nicht wie bei „endlich Chefsache“ immer die Aufgabe eines Anderen. Am besten drückt dieses Führungsverständnis der aus dem amerikanischen stammende Begriff des Leadership aus. Konsequentes Leadership beginnt stets bei mir selbst. Ich muss meinen eigenen Verantwortungsbereich definieren und dann konsequent Verantwortung übernehmen. Aber nicht, indem ich mich im Rahmen gewohnheitsmäßiger Grenzen bewege. Sondern indem ich frage: Was kann ich bewirken, wenn ich mein Handeln konsequent auf den potentiell möglichen eigenen Verantwortungsbereich ausrichte? Auch hier wieder kann das ehrenamtliche Engagement als Beispiel dienen: Lange bevor via „endlich Chefsache“ Hilfe organisiert war, haben in Deutschland Tausende ehrenamtliche Helfer Verantwortung übernommen und obendrein effektive Kommunikations- und Unterstützungsstrukturen geschaffen.
Die Antwort auf die Frage des potentiell möglichen eigenen Verantwortungsbereichs wird je nach Funktion und Rolle im System sehr verschieden ausfallen. Wenn wir uns alle fragen: „Was kann ich tun?“ – vom Ehrenamtler bis zum Staatsoberhaupt – wird „endlich Chefsache“ nicht notwendig sein. Allerdings nur dann, wenn die Philosophie des Leadership wirklich ernst genommen wird: „Leadership ist die Fähigkeit, relativ selbstlos andere zu fördern und zusammenzubringen. Das setzt Reife und soziale Kompetenz voraus.“ Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Warren Bennis dazu: „Die Kernkompetenz von Führung ist Charakter.“ Den sollte man zur Chefsache machen.“
(Quelle für das Zitat: Brandeins 3/2015 „Die Chefsache“ von Wolf Lotter)